Deutschland, 2025
Liebe Freundinnen, liebe Freunde!
Wir wissen nicht, wer Shani Louk ermordet hat - jene junge, deutsch-israelische Frau, deren Leichnam auf der Ladefläche eines Pick-Ups durch Gaza paradiert wurde, unter dem Johlen Schaulustiger und vor den Augen der gesamten Welt.
Hiess ihr Mörder Khaled? Oder Hassan? Oder hiess er vielleicht doch Heinrich oder Fritz und war das Jahr nicht etwa 2023, sondern 1943? Und der Ort des Schreckens nicht Gaza, sondern eine kleine Stadt in Osteuropa? Oder war das Jahr in Wahrheit 1905 und der Täter ein gewisser Dmitri, der sich das örtliche Pogrom zunutze machte, um seine Mordlust zu befriedigen? Oder vielleicht doch das Jahr 1391 in Kastilien? Oder eher das Jahr 38, im ägyptischen Alexandria, als unter der Herrschaft des Kaisers Caligula dort mehrere tausend Juden, einfach so, grundlos totgeschlagen wurden?
Wer die Geschichte des Judentums kennt, der weiss, dass der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 sich auf schreckliche Weise einreiht in all das, was diesem Volk seit Jahrtausenden angetan wird - vielleicht, weil es eine Spur begabter als andere Völker ist, weil in ihm die Flamme des Schöpferischen etwas heller brennt. Neid kann mörderisch sein.
Wie dem auch sei - wir, die wir hier versammelt sind, wissen um diese Geschichte. Deshalb sagen wir laut und vernehmlich:
Halt! Das Existenzrecht Israels wird nicht in Frage gestellt.
Halt! Jüdisches Leben in Deutschland muss sich frei und sicher entfalten können.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde - wir sind uns nur zu bewusst, dass weder das eine noch das andere zutrifft. Es gibt inzwischen viele Gegenden in Deutschland, in denen ein sichtbares Bekenntnis zum jüdischen Glauben lebensgefährlich ist. Und ebenso gibt es viele Gegenden hierzulande, in denen Israel tagtäglich das Existenzrecht abgesprochen wird.
Warum, so fragen wir, dominiert der Gazakrieg die Schlagzeilen, während der sehr viel blutigere Krieg im Sudan kaum Erwähnung findet? Oder die fortdauernde Internierung rund einer Million Moslems in chinesischen Arbeitslagern?
Antisemitismus ist, wenn man mit zweierlei Mass misst und dabei das Mass, das an Israel angelegt wird, immerzu ein krummes ist.
Antisemitismus ist, wenn man für die Politik Israels das gesamte jüdische Volk verantwortlich macht. Oder käme jemand auf den Gedanken, alle Deutschen für die Politik der Bundesregierung verantwortlich zu machen? Natürlich nicht. Bei Jüdinnen und Juden macht man das aber - und zwar weltweit, egal, ob sie in Deutschland, Argentinien oder in Israel leben.
Antisemitismus ist, wenn man unterschlägt, wer für den Gaza-Krieg ursächlich verantwortlich ist. Nämlich die Hamas. Und wer diesen fürchterlichen Krieg sofort - sofort! - beenden könnte, liesse er denn die Geiseln frei. Wiederum: die Hamas.
Überhaupt: Wer spricht eigentlich noch von ihnen - den verbliebenen 48 Männern und Frauen, die seit zwei Jahren unter unmenschlichen Bedingungen in Gaza gefangen gehalten werden und von denen wir nicht einmal wissen, wie viele von ihnen noch leben?
Wir wollen es heute tun und verlesen deshalb hier jetzt ihre Namen - an diesem Ort, an dem einstmals die Hofer Synagoge stand, bis sie im Jahr 1938 von den Nazis und ihren Helfershelfern zerstört wurde.
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Japan, 2025
Für uns selber kaum wahrnehmbar, für spätere Epochen dafür umso mehr: Wie sehr wir, jede und jeder einzelne von uns, Kinder unserer Zeit sind, im Denken, aber auch im Fühlen. Wir selber halten uns für einzigartig; dabei wurde uns das meiste, was in unseren Köpfen ist, von anderen mitgegeben oder auch eingeflößt. Deshalb ist es auch so schwierig, über den Moment, in dem man lebt, hinwegzublicken - den Kopf zu erheben über das, was gerade ist. Uns fehlen meist die Mittel dazu.
Japan, 2025
Japan 2025
Japan 2025
Vor einem Kunstwerk sollte man zuerst demütig stehen. Sich öffnen. Sich verwandeln lassen. „Was es mit einem macht“. Dann erst der kritische, der analysierende Blick.
Japan, 2025
Die Frage, die mich Zeit meines Lebens mehr als jede andere beschäftigt hat, ist folgende: Wie kann man sich von den Fesseln der eigenen Psyche befreien? Wo ist der Weg hinaus in die Freiheit?
Die Antwort ist so einfach, dass sie fast lächerlich ist - und fast lächerlich noch dazu, dass ich so viele Jahre gebraucht habe und so viele verschiedene Wege gehen musste, um zu ihr zu gelangen: Man muss sich selber die Wahrheit über sich selber sagen, rücksichtslos, unerschrocken.
Das allerdings gehört zu den schwersten Dingen die es gibt, nicht nur, weil man leicht der Versuchung erliegt, sich selber schmeicheln zu wollen - oder auch, aus einer Art umgekehrten Eitelkeit heraus, sich selber verdammen zu wollen.
Sondern, weil es tatsächlich oft schwierig ist, überhaupt zu wissen, was man wirklich fühlt und denkt. Zu viele fremde Stimmen in einem und um einen! Ein grosses Hindernis: Der Wunsch nach Status und Anerkennung. Ganz wird man das nie los. Aber dennoch: weg damit!
Es hilft nur: ausprobieren. Sich dem Leben aussetzen. Die unterschiedlichsten Erfahrungen sammeln. Sich selber immer wieder einen Arschtritt geben, wenn man zu bequem wird, die Sicherheit zu verlockend wird.
So, wie beim Stahlkochen die Schlacke weggebrannt wird, so legt ein ständig wiederholtes sich Aussetzen den Kern der eigenen Existenz frei. An ihn lässt sich schliesslich die Frage richten, von ihm kann man die Antwort erhalten: Wer bin ich? Was will ich hier? Was ist der nächste Schritt?
Spanien, 2022
Lichtenberg, 2024
Es ist drei Uhr früh. Du bist wach. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Wahrheit starrt dir ins Gesicht: Es ist alles, alles zum Untergang verurteilt. Nichts hat Bestand. Alles wird vergehen.
Neulich sasst du neben einer Frau, die dir von Gott erzählte und von der Sicherheit, die sie im Glauben an Ihn findet.
Wenn du nur glauben könntest! Du kannst es nicht.
Also bleibt dir nichts übrig, als leise aufzustehen, dir in der Küche einen Kaffee zu machen und am Fenster sitzend die Morgendämmerung abzuwarten. Mit dem heraufsteigenden Tag vergeht der Schrecken; die - grundlose - Zuversicht kehrt zurück.
Johannes Bobrowski:
Immer zu benennen:
den Baum, den Vogel im Flug,
den rötlichen Fels, wo der Strom
zieht, grün, und den Fisch
im weißen Rauch, wenn es dunkelt
über die Wälder herab.
Zeichen, Farben, es ist
ein Spiel, ich bin bedenklich,
es möchte nicht enden
gerecht.
Und wer lehrt mich,
was ich vergaß: der Steine
Schlaf, den Schlaf
der Vögel im Flug, der Bäume
Schlaf, im Dunkel
geht ihre Rede –?
Wär da ein Gott
und im Fleisch,
und könnte mich rufen, ich würd
umhergehn, ich würd
warten ein wenig.
Alban Nikolai Herbst
ES SASZEN DREI ENGEL BEISAMMEN.
Der eine war voll Blut,
der zweite ungeboren,
der dritte gut:
Der mischte die Karten.
Lange und verloren
ließ er die andern warten.
Dann reichte er endlich dem ersten den Stoß.
Der griff in die Kinder, die harrten.
Er zog einen Jungen, holte aus, ließ ihn los.
Es knallte das Kind auf den Tisch.
Der zweite zog aus dem Schoß behutsam ein Mädchen; malerisch
legt' er's zu ihm. Zwar war der tot,
doch als sich berührten die Glieder,
stieg von den beiden das Morgenrot
und schien auf die Engel nieder.
Italien, 2024
Unterwegs: tiefgrüne Wälder, weissgelbe Felder, der Himmel dunkelblau. Der Sommer ist auf seinem Höhepunkt; er ist in vollem Schwung. Er scheint unverwundbar.
Ägypten, 2023
Die Aufgabe des Schriftstellers ist, das zu sagen, was nicht gesagt wird.
Ägypten, 2023
Eine Frage, die für mich als jemand, der nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, immer schon ein reizvolles Paradoxon darstellt - ähnlich dem berühmten Zen-Koan über die eine klatschende Hand: Wie fühlt es sich an, tot zu sein?
Heute Nacht kam mir die Antwort im Traum. Wie ein Blitz schlug sie ein, so dass ich sofort wach war. Schwer atmend lag ich auf dem Rücken. Für einen kurzen, unerträglichen Moment hatte ich das Nichts gesehen.
Venedig, 2023
Neapel, 2022
Wir alle sehnen uns nach Anerkennung, nach Zustimmung. Aber gerade im Bereich der Kunst kann Bahnbrechendes oft nur erreicht werden, wenn wir bereit sind, im Zweifelsfall auf die Anerkennung anderer zu verzichten - den Schmerz des Alleinseins zu riskieren. Das fällt denen leichter, die ihn bereits seit der Kindheit kennen, zum Beispiel, weil die Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen sind, sie ausgeschlossen oder gering geachtet hat. Deshalb sind es oft Aussenseiter, die Aussergewöhnliches leisten.
Lichtenberg, 2021
"Nicht denken - schreiben", sagte vor vielen, vielen Jahren ein inzwischen verstorbener Dichter zu mir, als er mir mein erstes Manuskript zurückgab. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was er damit meinte - und dass er recht hatte.
Der Anruf eines Freundes: „Diese Nähe - die habe ich noch mit keiner anderen Frau erlebt. Dieses Eins-Sein. Seelisch und körperlich. Aber ich kann meine Freundin nicht verlassen, das kann ich ihr nicht antun. Und sie wiederum, also meine Geliebte - sie möchte mich ganz oder gar nicht. Sie will nicht die Frau im Schatten sein, wie sie sagt. Was man ja gut verstehen kann. Also haben wir uns jetzt getrennt. Ich bin verzweifelt. Am Ende. Was soll ich nur machen?“
„Mein Rat: Dem Schmerz nicht ausweichen. Nicht betäuben. Sondern ihn durchleben. Notfalls stellst du dich unter die Dusche und heulst dort. Wenn du auf der anderen Seite angekommen bist, also jenseits des unmittelbaren Trennungsschmerzes, wird die Sicht wieder klar. Dann wirst du ganz von selber wissen, was zu tun ist.“
Lichtenberg, 2021
Ein krimineller Verwandter, den ich schon viele Jahre nicht mehr gesehen habe, erschien mir heute Nacht im Traum. Er lief in einer Menschenmenge vorbei an mir, ohne mich zu sehen; ich hatte Sorge, er könne sich umdrehen und mich bemerken.
Er hatte früh begriffen, dass er sich mit nackter Gewalt gegen seine Geschwister durchsetzen konnte. Seine Mutter - die selber keiner Fliege etwas zuleide tun konnte - unterstützte ihn darin.
Einher mit seiner Gewalttäigkeit ging eine verblüffende Sentimentalität, ein auffälliger Hang zum Selbstmitleid. Gerade das Selbstmitleid bemerkte ich dann auch im späteren Verlauf meines Lebens immer wieder an gewalttätigen Menschen. Beide Eigenschaften bedingen sich vielleicht nicht, scheinen aber miteinander verbunden zu sein.
Die vierte Symphonie von Brahms: Wie ist es möglich, dass eine Abfolge von - ja, am Ende doch nur - Geräuschen einen so aufzuwühlen vermag?
Berlin, 2024