Neulich wachte ich mitten in der Nacht auf und sah durch unser Dachfenster, wie sich ein grauer Wolkenteppich über den klaren, winterlichen Sternenhimmel schob. Für Momente konnte man glauben, den Planeten bei etwas ertappt zu haben - bei seinen nächtlichen Verrichtungen, die sich gewöhnlich im Verborgenen abspielen, so, wie sich unsere Verdauung im Verborgenen abspielt oder unser Herzschlag.
Die sogenannte „Gaia“-Hypothese, die vor einigen Jahren im Umlauf war, postuliert, dass die Erde in ihrer Gesamtheit ein lebendes Wesen ist und wir Menschen wiederum Teil von ihr. So schön diese Hypothese ist - sie gibt einem ein Gefühl von Geborgenheit, von Zugehörigkeit -, so wenig überzeugend finde ich sie. Naturwissenschaftlich gibt es kein Indiz für ihre Richtigkeit. Sie scheint unserem Bedürfnis entsprungen, die unbelebte Natur dadurch weniger furchterregend zu machen, dass wir sie in unserer Vorstellung beleben.
Mir fiel eine andere Nacht ein, in der ich ebenfalls wach gelegen und in den Sternenhimmel gesehen hatte, allerdings durch das Moskitonetz eines Zeltes hindurch. Diese Nacht lag sieben oder acht Jahre zurück. Ich war unterwegs mit meinen Söhnen. Wie wir es schon öfters gemacht hatten, überquerten wir mit unseren Mountainbikes die Alpen.
In jener Nacht drehten sich meine Gedanken um ein sehr viel persönlicheres Thema: Ich dachte an meinen Vater, einen in meiner Kindheit ausserordentlich gewalttätigen Mann. Es verging damals kein Monat, in dem er nicht - oft ohne Vorwarnung - über einen von uns Kindern herfiel, uns an den Haaren aus dem Bett oder dem Schreibtischstuhl riss und, uns schlagend und tretend, quer durch das Haus trieb.
Drei solche Zwischenfälle sind mir besonders im Gedächtnis geblieben, nicht, weil sie gewalttätiger als andere gewesen wären, sondern weil ich sie auch Jahrzehnte später immer noch als bedrückend empfinde.
Der eine betrifft meinen behinderten Bruder, schon lange tot, der zu der Zeit sechzehn oder siebzehn Jahre alt war. Ich selber war zwölf oder dreizehn. Körperlich war mein Bruder normal entwickelt, wenn auch schwächlich und unkoordiniert in seinen Bewegungen. Geistig befand er sich auf dem Stand eines Dreijährigen. Da meine Mutter auf einer mehrwöchigen Kur war, war es Aufgabe meines Vaters, ihn morgens zu füttern.
Sei es, dass mein Bruder nicht daran gewöhnt war, von meinem Vater gefüttert zu werden; sei es, dass ihm der Brei, so, wie ihn mein Vater zubereitete, nicht schmeckte: Jedenfalls wehrte er sich Morgen für Morgen dagegen, den Brei zu essen. Und Morgen für Morgen zwang ihn deshalb mein Vater auf den Fussboden hinunter, kniete sich auf seine Oberarme, so dass mein Bruder meinen Vater nicht mehr abwehren konnte, und schob ihm mit Gewalt den Löffel in den Mund.
Um meinen Bruder dazu zu bringen, den Brei auch tatsächlich herunterzuschlucken, ohrfeigte mein Vater ihn: links, rechts, in kurzen, scharfen Schlägen. Dabei platzte das - aufgrund von Medikamenten - ständig aufgequollene Zahnfleisch meines Bruders auf und blutete.
So ergab sich in den Wochen, bis meine Mutter wieder da war, immer wieder folgendes Bild: Mein Bruder rücklings auf dem Boden, weinend und nach meiner Mutter schreiend, dazwischen blutigen Brei ausstossend; mein Vater auf ihm, schlagend und fluchend.
Eine weitere solche Erinnerung betrifft meinen jüngeren Bruder, der als Kleinkind längere Zeit im Krankenhaus gewesen war und von dort einen sogenannten Hospitalismus mitgebracht hatte: Nachts, im Schlaf, warf er sich mit Oberkörper und Kopf manchmal minutenlang hin und her.
Sommerzeit hiess bei uns immer Reisezeit; und Reisezeit hiess Zeltzeit, da mein Vater seinen Urlaub am liebsten in der abgelegenen Wildnis von Skandinavien oder Kanada verbrachte. Zeltzeit: Wir schliefen alle auf engstem Raum zusammen. Da konnte es geschehen, dass mein Bruder meinen Vater mit seinem „Heia-Spiel“, seinem Hospitalismus, ungewollt aufweckte. Die unweigerliche Folge: nächtliche Schläge, Tritte.
Die für mich schmerzhafteste Erinnerung dieser Art betrifft allerdings meinen ältesten, damals etwa vierzehnjährigen Bruder, und sie besteht eigentlich nur aus einem einzigen Bild: Ich sehe ihn auf dem Boden, die Hände sich schützend erhoben, das damals etwas füllige Gesicht voller Angst. Angst wovor? Vor meinem Vater, der mit dem Bein ausholt, ihn zu treten. Meinen Bruder, den ich liebte und bewunderte, so erniedrigt zu sehen: Das traf mich offenbar tief.
Was mich persönlich betrifft - ich fürchtete als Kind nichts und niemanden so sehr wie meinen Vater. Ich dachte mehr als einmal, „jetzt macht der Papa mich tot“.
Das lag auch an der Art seiner Wut oder Tobsucht: Sie hatte etwas Entfesseltes, wie man es sonst nur bei Drei- oder Vierjährigen sieht. Die allerdings können, anders als ein erwachsener Mann, mit ihrer Körperkraft nicht viel ausrichten.
Wenn mein Vater auf einen losstürmte, dann tat er das mit vorgeschobenem Unterkiefer, dabei stöhnend, als ginge ihm gleich die Luft aus, das Gesicht verzerrt von Hass, die Augen blind vor Wut. Irgendetwas brach sich in ihm Bahn, das mit uns Kindern wenig zu tun hatte und deshalb auch von uns kaum beeinflusst werden konnte. Rundum gutes Benehmen schützte keineswegs. Ich weiss noch, wie mein jüngster Bruder einmal freundlich auf ihn zuging, um ihn zu begrüssen - und wie mein Vater, der gerade von der Arbeit kam, sofort auf ihn einschlug.
Mit fünfzehn schlug ich das erste Mal zurück. Danach erhob er nicht mehr die Hand gegen mich.
Trotz allem - der Gewalt, der Angst - entwickelte ich im Lauf meines Erwachsenenlebens ein gutes Verhältnis zu ihm. Über Jahre hinweg war ich sogar das einzige unter uns Geschwistern, das nennenswerten Kontakt mit ihm hatte. Wir besuchten uns gegenseitig mehrmals pro Jahr. Wir telefonierten häufig. Er und seine Lebensgefährtin - er hatte sich inzwischen von meiner Mutter getrennt - waren gern gesehene Gäste bei uns. Einmal gestand er mir, wie sehr er sich für seine frühere Gewalt gegen uns Kinder schäme. Ich nickte verständnisvoll.
Warum sprach ich seinen schweren körperlichen Missbrauch, wie man das heute nennen würde, nicht energischer an? Das Thema war gesellschaftlich inzwischen in aller Munde. Würde heute jemand seine Kinder so schlagen, wie mein Vater es damals getan hatte, würde man ihm das Sorgerecht entziehen und zu einer Haftstrafe verurteilen.
Warum also?
Einerseits, weil mir klar war, dass ich damit mein Verhältnis zu ihm beschädigen würde. Ich hatte mich, trotz seiner Gewalttätigkeit, immer nach Nähe zu ihm gesehnt. Und jetzt bekam ich sie. Er nannte mich sogar einmal seinen „Lieblingssohn“. Tagelang ging ich wie auf Wolken.
Und andererseits, weil ich mich zwar an viele entsprechende Einzelheiten erinnerte, sie aber nicht empfand. Ich wusste zum Beispiel, dass er mich als Kind einmal so mit einem Stock verprügelt hatte, dass ich nachher blutige Schwellungen auf den Handrücken hatte. Ich sah meine Hände von damals immer noch deutlich vor mir. Aber ich fühlte die Erinnerung nicht - so, als sei sie die eines Fremden. Es war, als habe sie mit mir nichts zu tun.
Das änderte sich in jener Nacht im Zelt, als ich durch das Moskitonetz in den Sternenhimmel hinaufsah. Aufgewacht war ich, weil ich einen meiner typischen Alpträume gehabt hatte, die mich alle paar Monate heimsuchten. An Einzelheiten konnte ich mich, wie immer, nicht erinnern. Aber das Gefühl, das den Traum bestimmt hatte, schwang weiter in mir nach: das einer umfassenden Vernichtung meiner Person, Entwertung, Zerstörung.
Gewöhnlich hätte die nächste Stunde darin bestanden, dass ich mich gegen dieses Gefühl zur Wehr setzte, es in mir herunterkämpfte, bis es so schwach geworden war, dass ich wieder einschlafen konnte. Doch in dieser Nacht besass ich offenbar nicht die Energie dazu. Der Tag war sehr anstrengend gewesen. Wir hatten auf kleinen Pfaden den Alpenhauptkamm überquert. Das war mir schwerer als sonst gefallen, da ich mir zwei Tage zuvor eine Magenverstimmung zugezogen hatte, die mir Kraft nahm. Ich war am Abend so erschöpft in meinen Schlafsack gekrochen, dass ich sofort eingeschlafen war.
Ich liess also den „tollwütigen Hunden“ freien Lauf. Will sagen: Ich wehrte mich nicht gegen den Ansturm der Gefühle im Gefolge meines Traumes, sondern blieb ihr passiver Zeuge. Das hatte ich noch nie getan, da ich fürchtete, von ihnen so überwältigt zu werden, dass ich danach nicht weiter normal funktionieren konnte. Sie immerzu in Schach zu halten, in jedem Moment meines Lebens: Das sah ich als essentiell für mich an.
Ich erlebte eine Überraschung.
Ja, sie nahmen an Intensität zu, in einem Mass, das mich buchstäblich ins Schwitzen brachte. Aber sie „verschlangen" mich nicht, wie meine Befürchtung gewesen war - sondern sie verschwanden nach einer Weile, die sich allerdings wie eine Ewigkeit anfühlte. Oder besser: Sie verschwanden nicht, sondern sie verwandelten sich. Sie wurden zu Wut.
Zu Wut auf wen? Auf meinen Vater.
Das war die zweite Überraschung. Ich war mir bis dahin sicher gewesen, dass ich die mitunter traumatischen Bedingungen, unter denen meine Geschwister und ich aufgewachsen waren, gut überstanden hatte.
Zu sagen, ich erwachte am nächsten Morgen als anderer Mensch, hiesse, zu übertreiben. Was sich aber fundamental und über Nacht verändert hatte, war das Verhältnis zu meinem Vater. Ich konnte ihm fortan nicht mehr begegnen, ohne Erinnerungen von der Art vor Augen zu haben, wie ich sie oben geschildert habe. Nur diesmal waren sie nicht wie abgetrennt von mir, wie die eines Fremden, sondern sie waren mit Gefühlen verbunden, zum Teil sehr starken Gefühlen. Es blieb mir schliesslich nichts anderes übrig, als mit ihm zu brechen.
Die Alpträume aber, von denen ich oben gesprochen habe, verschwanden. Sie sind seitdem nicht wiedergekehrt.
Jetzt ist er tot.
Ich denke nicht, dass er den Eintrag vom Januar noch gelesen hat. Warum auch? Interesse an seinen Kindern hatte er wenig. Als ein Enkel jüngster Bürgermeister Deutschlands wurde, noch dazu in einem Ort, dem er sich sehr verbunden fühlte, hat er nicht einmal zur Wahl gratuliert.
„Erst die Mathematik. Dann die Frau. Dann die Kinder.“ So drückte er einmal seine Prioritäten aus. Da praktisch seine gesamte wache Zeit dem ersten Posten auf der Liste gewidmet war, blieb entsprechend wenig Zeit für die beiden anderen.
Ein „böser Mensch“, wie man so sagt, war er nicht, trotz seiner Gewalttätigkeit. Aber was heisst das schon: „böser Mensch“. Wir alle haben, auch in den dunkelsten Momenten, unsere Gründe.
Als er acht war und wieder einmal von seiner überaus strengen Mutter auf den Dachboden verbannt worden war, entdeckt er dort ein mathematisches Lehrbuch. Seitdem galt sein Leben dieser Wissenschaft. Fast klassisch. Fast Hollywood-reif.
Wirtschaftliche Not litt er nie, auch nicht in den Nachkriegsjahren, in denen Millionen hungernd durch zerbombte Städte zogen. Der Dachboden, auf dem er das Lehrbuch gefunden hatte, war der des Familienschlosses.
Die Herkunft aus einer alten Adelsfamilie zwang ihn - so empfand er das wohl - zur Ehe und zu vielen Kindern. Bis mein ältester Bruder geboren wurde, besass sein Zweig der Familie keinen männlichen Nachwuchs mehr. Das galt in jenen Kreisen damals als Katastrophe, schlimmer als die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Familie, Abstammung, Grundbesitz - das waren die zentralen Werte, denen sich alle anderen unterzuordnen hatten.
Doch gemacht war er für das Familienleben nicht; er hasste es zumeist. Zudem war die Ehe unglücklich, praktisch von Beginn an. Die doppelte Last - die der vielen Kinder, die der depressiven Ehefrau - rief eine tobende Wut in ihm hervor, die sich in körperlicher Gewalt entlud.
Verträglicher wurde er erst, als die kulturellen Umwälzungen der Studentenrevolte auch ihn, den konservativen Professor, erreichten und er begeisterter Teilnehmer von Wochenendkursen wurde: Familienaufstellung, afrikanische Trommeln, Meditation. Er wurde gelöster, wohl auch sexuell. Die eheliche Untreue folgte auf dem Fuss. Er kam immer später und, an manchen Abenden, gar nicht mehr nach hause. Aber, wie gesagt, er wurde verträglicher. Für die jüngsten Kinder, die noch zuhause lebten, war das ein Segen. Er schlug sie sehr viel weniger, als er uns, die älteren, geschlagen hatte.
Irgendwann - da hatte er sich inzwischen von meiner Mutter getrennt und war mit der Frau zusammen gezogen, mit der er das letzte Drittel seines Leben verbringen würde - freundete ich mich mit ihm an und entwickelte sogar einen gewissen Respekt für ihn. Er konnte sehr ehrlich sein und schonte sich dabei selber nicht. Nähe, zu der er wohl mit keinem Menschen fähig war, entstand trotzdem nicht. So blieb in mir immer etwas Unerfülltes, schmerzhaft Sehnsuchtsvolles. Die Kränkungen häuften sich an; ihr Gewicht wurde schliesslich so gross, dass ich mich von ihm zurückzog. Dem folgte, wiederum einige Jahre später, der Bruch, den ich im letzten Eintrag geschildert habe.
Eine weitere Stärke war seine Unsentimentalität. Er hatte etwas Unerschrockenes, wenn es darum ging, den Wechselfällen des Lebens ins Auge zu schauen. Auf der Intensivstation liegend, hatte er über Stunden hinweg die Sauerstoffsättigung seines Blutes beobachtet und, ganz Wissenschaftler, seine nüchternen Schlüsse aus den Werten auf dem Bildschirm gezogen. „Das wird nix mehr“, war sein letzter Satz, eine Viertelstunde vor seinem Tod. Er war bis zum Schluss kristallklar. Ein Sturz - Oberschenkelhalsbruch - hatte ihn wenige Tage zuvor ins Krankenhaus gebracht. Er wurde 89 Jahre alt.
Nach dem Selbstmord meiner Schwester begab ich mich in Psychotherapie, auch weil ich die Probleme meiner Herkunftsfamilie nicht versehentlich an meine Söhne weitergeben wollte. Der Therapeut, den ich damals mehrfach im Jahr aufsuchte, hatte seine Praxis im südlichen Bayern, nicht weit von den Alpen. Auf einer der Zugfahrten dorthin fiel mir eine kroatische oder serbische Zeitung in die Hände. Sie zeigte eine Karikatur, die ich mir herausriss und lange im Geldbeutel aufbewahrte. Sie wurde zum geheimen Motto jener Jahre.
Dargestellt war links eine brennende Hundehütte und rechts ein Trupp von Feuerwehrleuten, den Löschschlauch in der Hand. Der rettende Wasserstrahl erreichte aber die Hütte nicht ganz. Warum? Weil der an der Hütte angekettete Hund die Zähne fletschte und die Feuerwehrleute wütend anbellte. Er liess sie nicht heran. Mit anderen Worten: Er verhinderte seine eigene Rettung.
Während der Therapie, die in Zehnergruppen stattfand, konnte ich immer wieder beobachten, wie wir uns gegen die angebotene Hilfe wehrten - ein in Therapien wohl häufiges Phänomen. Die Beschwerden, die uns hierhergebracht hatten, mochten unangenehm sein. Sie hatten allerdings den Vorzug des Vertrauten. Wenn es sie nicht mehr gab - was gab es dann? Diejenigen unter uns, denen es so dreckig ging, dass bei ihnen sozusagen nicht nur die Hütte, sondern schon der Pelz brannte - die hatten es am Ende einfacher. Sie nahmen das Angebot des Therapeuten an und sprangen entschlossen ins Unbekannte, denn schlimmer als das Bekannte würde es nicht sein können.
Johannes Brahms über das Komponieren (aus: Arthur Abell, Gespräche mit grossen Komponisten):
„Wie Beethoven zu erkennen, daß wir eins sind mit dem Schöpfer, ist ein wunderbares, ehrfurchtgebietendes Erlebnis. Sehr wenige Menschen gelangen zu dieser Erkenntnis, weshalb es so wenige große Komponisten oder schöpferische Geister auf allen Gebieten menschlichen Bemühens gibt. Über dies alles denke ich immer nach, bevor ich zu komponieren anfange. Dies ist der erste Schritt. Wenn ich den Drang in mir spüre, wende ich mich zunächst direkt an meinen Schöpfer und stelle ihm die drei in unserem Leben auf dieser Welt wichtigsten Fragen: woher? warum? wohin?
Ich spüre unmittelbar danach Schwingungen, die mich ganz durchdringen. Sie sind der Geist, der die inneren Seelenkräfte erleuchtet, und in diesem Zustand der Verzückung sehe ich klar, was bei meiner üblichen Gemütslage dunkel ist. Dann fühle ich mich fähig, mich wie Beethoven von oben inspirieren zu lassen. Vor allem wird mir in solchen Augenblicken die ungeheure Bedeutung der Offenbarung Jesu bewußt: „Ich und der Vater sind eins.“
Diese Schwingungen nehmen die Form bestimmter geistiger Bilder an, nachdem ich meinen Wunsch und Entschluß bezüglich dessen, was ich möchte, formuliert habe: nämlich inspiriert zu werden, um etwas zu komponieren, was die Menschheit aufrichtet und fördert - etwas von dauerhaftem Wert. Sofort strömen die Ideen auf mich ein, direkt von Gott. Ich sehe nicht nur bestimmte Themen vor meinem geistigen Auge, sondern auch die richtige Form, in die sie gekleidet sind, die Harmonien und die Orchestrierung. Takt für Takt wird mir das fertige Werk offenbart, wenn ich mich in dieser seltenen inspirierten Gefühlslage befinde.
Ich muß mich im Zustand der Halbtrance befinden, um solche Ergebnisse zu erzielen - ein Zustand, in welchem das bewußte Denken vorübergehend herrenlos ist und das Unterbewußtsein herrscht, denn durch dieses, als einem Teil der Allmacht, geschieht die Inspiration. Ich muß jedoch darauf achten , daß ich das Bewußtsein nicht verliere, sonst entschwinden die Ideen.“
Vor einigen Jahren begegnete mir in einer oberitalienischen Stadt eine Frau, ungefähr in meinem Alter. Sie kam in ihrem kleinen Fiat die Gasse hinab. Sie hatte sich verfahren, konnte aber das Auto nicht wenden, da ihr die Gasse zu eng war. Sie bat mich, es für sie tun. Ich tat es, sie bedankte sich, ich verabschiedete mich.
Zwei, drei Stunden später begegnete ich der Frau wieder, diesmal in einer Kirche. Ich sah mir die Altarbilder an, sie entzündete Kerzen am Eingang und warf ein paar Münzen in die Spendenkasse. Beim Hinausgehen grüßte ich sie kurz; sie sah mit tränenverschleierten Augen auf.
Am Abend, in einer Pizzeria. Wen sehe ich am anderen Ende der Bar, vor einem Glas Wein? Wieder ist sie es.
Ich setzte mich zu ihr. Doch schon nach zwei Sätzen bestätigte sich der Eindruck, den ich schon bei unserer ersten Begegnung in der engen Gasse gehabt hatte: dass wir beide uns nichts, aber auch gar nichts zu sagen hatten. Langeweile, schon nach wenigen Sätzen. Ich setzte mich zurück auf meinen Platz.
Warum beschäftigte mich diese Begegnung? Weil es wirklich so schien, als wolle das Schicksal oder irgendeine andere, sozusagen über-menschliche Macht, dass wir beide in näheren Kontakt traten. Immer wieder liefen wir uns in bedeutungsvollen Momenten über den Weg.
Aber da war in Wirklichkeit nichts. Kein Interesse, kein Funken, da war nichts zu lernen, nichts zu erfahren. Der Zufall, und nichts anderes, hatte uns dreimal auf diese Weise zusammengeführt.
Als ich vor Jahren im Himalaja lebte, begegnete mir dort täglich ein Mann, von dem ich wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er war um die vierzig und besaß eine vielköpfige Familie, die er mit seiner Anstellung im örtlichen Postamt ernährte. Mit seinem Tod würde sie ins Elend geraten.
Er hatte deshalb nicht mehr lange zu leben, weil sein Herz fehlerhaft war. Eine Operation, wie sie zum Beispiel für ihn in Singapur möglich gewesen wäre, hätte 10.000 Dollar gekostet. Er erzählte mir das alles einmal auf der Straße, als ich ihn auf sein blasses Aussehen ansprach. Es gebe keine Möglichkeit für ihn, dieses Geld aufzutreiben.
Ich besaß 10.000 Dollar. Das war das Geld, das ich zurückgelegt hatte, um eine Weile in Asien zu leben. Ich lebte sehr einfach, in einer Lehmhütte am Berg. Auf Luxus kam es mir nicht an, aber aufs Reisen. Wenn ich dem Mann das Geld gab, würde ich wieder nach Deutschland zurückkehren müssen.
Der Mann erzählte mir also seine Geschichte, ich fand sie von den Nachbarn bestätigt. Ich quälte mich. Ich konnte dem Mann, wenn ich ihm begegnete, nicht ins Gesicht sehen. Ich reiste unvermittelt ab, erkundigte mich aber immer wieder nach ihm und erfuhr ein paar Monate später, dass er gestorben war.
Im Jahr darauf, im nepalesischen Kathmandu, lief mir ein junger Tibeter über den Weg, dessen Familie ich aus Indien kannte. Er hatte hier Arbeit gefunden. Er war verzweifelt. Seine jahrelange Schulausbildung, sein guter Abschluss waren nichts wert, weil er das Geld zum Studieren nicht hatte. Ich nahm ihn mit in mein Hotelzimmer. Er saß weinend auf meinem Bett. Er brauchte rund 4000 Dollar, in Nepal ein kleines Vermögen. Ich versprach ihm, eine Lösung zu finden.
Ich ging auf die Straße, ins nächste Café. Dort sprach ich einen Deutschen an. Er war sofort bereit zu helfen. Wir teilten uns das Schulgeld, er 2000 Dollar, ich 2000 Dollar. Der junge Tibeter kniete am nächsten Morgen vor Dankbarkeit vor mir nieder.
Zwei Jahre später, nach erfolgreichem Abschluss des Studiums, bat er mich erneut um Geld. Inzwischen lebte ich wieder in Deutschland. In Indien, so sagte er, gebe es keine Zukunft für ihn, er wolle nach Amerika. Jemand sei bereit, ihn zu schleusen. Ich dachte an den herzkranken Inder und gab ihm die 6000 Dollar, die er brauchte.
Dann hörte ich eine Weile nichts mehr von ihm. Auf meine Emails antwortete er nicht. Als ich nach langer Zeit mal wieder in Indien war, besuchte ich auch seine Mutter. Sie gab mir eine indische Telefonnummer. Ich rief ihn an. Er entschuldigte sich vielmals bei mir und gestand mir, dass er - was ich schon von der Mutter wusste - nie nach Amerika gegangen war.
"Aber was hast du dann mit dem Geld gemacht?", fragte ich ihn.
"Ich habe es ausgegeben. Ich habe ein Jahr in New Delhi gelebt wie ein König."
Ich zog alle möglichen Lehren aus diesen Begebenheiten, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich dem Tibeter böse sein durfte.
Sie war 18, ich 20. Der Ort ein Treppenaufgang an der 8. Strasse, zwischen der First Avenue und der Avenue A. Sommernacht. Über eine gemeinsame Bekannte, eine Ägyptologin, kamen wir ins Gespräch.
Drei schlaflose Nächte später waren wir verheiratet. Als Trauzeugen diente uns ein mittelaltes Ehepaar, Afro-Amerikaner wie sie, denen wir auf einem der Flure des riesigen New Yorker Standesamtes begegneten. Obwohl wir praktisch kein Geld hatten, waren wir selbstverständlich mit dem Taxi gekommen.
Das heisst, sie hatte kein Geld. Sie hatte die letzten Monate wortwörtlich auf der Strasse gelebt, da ihre Mutter sie rausgeworfen hatte. Ich arbeitete ja, und zwar in einem sogenannten Delicatessen, von abends fünf bis morgens um drei. Dort stand ich hinter der Kasse. Ein West-Deutscher, zwei Marokkaner, ein Inder: Das war die Belegschaft.
Die Hochzeitsreise mit Auto, aber ohne Führerschein, endete im Fiasko, nicht nur, weil der kleine blaue Audi auf halber Strecke zusammenbrach. Im Park einer Universitätsstadt zog sie sich splitternackt aus und rannte schreiend hinunter zum See. In den Krankenwagen der psychiatrischen Ambulanz stieg sie aber dann ohne Widerstand ein. Plötzlich fügsam wie ein Lamm.
Bipolar, manisch-depressiv, ein schwerer Fall: So lautete die Diagnose. Daher also diese ungeheure, diese mitreissende Intensität, das Leben ein Rausch, ob beim Essen oder beim Sex - und daher jetzt diese rapide Absturz in eine bleierne Depression, diese Tage, die zu Wochen, zu Monaten wurden, in denen sie auf dem Bett lag, an die Decke starrte und rauchte.
Wir wohnten inzwischen in Brooklyn, in einer der gefährlichsten Gegenden der Stadt. Direkt vor unserem Haus wurden harte Drogen verkauft. Nachts stiegen die "Pusher" auf der Feuerleiter an unserem Schlafzimmerfenster vorbei nach oben. Wir konnten ihre Schritte auf dem Flachdach über uns hören. Diese Leute waren gefährlich. Man senkte den Kopf, wenn man ihnen auf der Strasse begegnete.
Ich arbeitete sechs Tage in der Woche in einer Buchhandlung. Das Geld, das ich verdiente, reichte gerade für die Miete und das notwendige Essen. Grosse Sprünge, wie man so sagt, konnten wir nicht machen. Auch keine kleinen. Sie nahm schliesslich eine Stelle an, verlor sie aber gleich wieder, weil sie das ihr anvertraute Kassengeld anstatt der Bank einem Hütchenspieler gab - in der sicheren Erwartung, es dadurch zu verdoppeln. Dazu kam, dass unsere Lage in Brooklyn immer bedrohlicher wurde: Ich war der einzige Weisse weit und breit und ständigen tätlichen Angriffen ausgesetzt.
Ich kehrte mit ihr nach Deutschland zurück. Dort wurde schnell offensichtlich, dass uns zu wenig verband. Ein Jahr später war sie wieder in New York, während ich auf eine Schauspiel-Akademie aufgenommen wurde.
Die Scheidung, vor einem deutschen Gericht, war eine Formalität.
Ich hörte immer weniger von ihr. Einmal lief ich ihr zufällig in Berlin über den Weg, wohin sie inzwischen gezogen war. Ich erkannte sie sofort. Ob sie mich erkannte? Ihr Gesichtsausdruck verriet jedenfalls nichts.
Hin und wieder, vielleicht alle paar Jahr, schrieb sie mir eine lange Email, in der sie eine Episode aus ihrem Leben schilderte. Ihre Mutter war Schriftstellerin gewesen, und sie selber konnte auch gut schreiben. Nicht nur das - auf der Bühne war sie ein Naturtalent und hätte als Schauspielerin ohne Weiteres Karriere machen können. Doch aus irgendeinem Grund machte sie nichts aus ihren Begabungen.
Sie lebte in den Tag. Ihre psychische Erkrankung holte sie wohl in den letzten Jahren ein, wie mir gemeinsame Bekannte schrieben.
Anfang des Jahres starb sie - wie ich jetzt erfuhr - mittellos und alleine in einem Berliner Krankenhaus, kurz nach ihrem 54. Geburtstag.
Wenn man davon ausgeht, dass eine Generation 20 Jahre umfasst, dann genügen 40 Generationen, um den Zeitraum von heute bis zum Hochmittelalter auszuschreiten. Anders gesagt: vierzig Männer oder Frauen, die einander jeweils Vater oder Mutter gewesen sind, bilden eine Zeitkette zurück ins Jahr 1222.
Man kann sich die vierzig hintereinander, in einer Schlange, vorstellen. An der Spitze der Schlange stehe ich. Hinter mir steht mein Vater. Hinter ihm seine Mutter, meine Großmutter. Hinter ihr wiederum ihre Mutter, meine Urgroßmutter, die ich nicht mehr kennengelernt habe.
Vierzig Personen. Das ist nicht viel. Das sind gerade mal anderthalb Klassenzimmer. Vierzig Personen: so viele stehen in der Weihnachtszeit mitunter an den Kassen der Kaufhäuser an.
Weitere vierzig, also insgesamt achtzig, und wir sind im Jahr 422. Germanen. Langhäuser. Riesige Wälder. Unverständliche, aber irgendwie vertraut klingende Sprache.
Weitere zwanzig, und wir sind in der Zeit um Christi Geburt.
Weitere eintausend. Die Höhlenmalereien von Lascaux. Auerochsen, Pferde, Hirsche im Licht von Fackeln oder Öllampen auf den Fels gemalt.
(Was sind schon eintausend Menschen?)
Zehntausend. Letzer gemeinsamer Vorfahr von modernem Mensch und Neanderthaler.
Fünfzigtausend. Homo Erectus. Seine Nase ist ein wenig zu flach, die Brauenwülste sind ein wenig zu ausgeprägt. Ansonsten aber: Er ist ein Mensch wie ich, mein Vorfahr.
Hunderttausend. Homo Habilis. Ist er ein Affe? Ist er ein Mensch? Haare überall, der Schädel winzig, aber nachts zündet er Feuer an, um die Raubtiere fernzuhalten.
Hundertfünfzigtausend. Australopithecus africanus. Aufrecht auf zwei Beinen zwar, aber wenn ihn ein Raubtier jagt, flüchtet er wie ein Affe hinauf in die Bäume.
Zweihunderttausend. Australopithecus anamensis. Ein Affe ganz und gar, aber auf zwei Beinen.
Zweihunderttausend Vorfahren also bin ich vom Tierreich entfernt. Die Zeitkette ist rund 50 Kilometer lang.
Die Leere ist der Satan, schreibt der französische Schriftsteller Julien Green sinngemäss in seinem seiner Tagebücher. Er schildert Abende, an denen er ziellos durch seine Pariser Wohnung wandert, nicht wissend, was er mit sich selber anfangen sollte. Er lässt schlieslich, die Leere nicht mehr ertragend, alle Vorsätze fallen, geht runter auf die Straße und machte sich auf die Suche nach schnellem Sex. Green war homosexuell und zugleich gläubiger Katholik.
Er hatte ein verbissenes Gesicht, als habe er Tag und Nacht die Kiefermuskeln angespannt. Seine Sexualität war eines seiner Lebensprobleme. Er konnte den Konflikt zwischen seinen Wünschen und seinen eigenen Ansprüchen nicht lösen. Er wurde fast hundert Jahre alt. Hätte er sich doch freien Lauf gelassen, er hätte ein besseres Leben gehabt. Aber so etwas ist schnell gesagt.
Apropos Satan: An anderer Stelle schreibt er, wie er einmal als junger Mann mit seinem Cousin am Esstisch saß. Der Cousin war noch ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Er fragte Julien nach dem Teufel. Julien antwortete (ich zitiere wieder sinngemäss aus dem Gedächtnis): "Der Teufel kann jede Gestalt annehmen, die er möchte. Ich gehe jetzt aus dem Zimmer. Wenn sich die Tür wieder öffnet, wird der Teufel eintreten. Er wird so aussehen wie ich, so sprechen wie ich, sich so bewegen wie ich. Er wird sogar abstreiten, der Teufel zu sein. Er wird darüber lachen, dass du ihn für den Teufel hältst. Aber es wird der Teufel sein, der jetzt gleich eintritt." Julien Green verliess das Zimmer, wartete einen Moment draussen auf dem Flur, und betrat es wieder. Sein Cousin, so schreibt er, wurde fast wahnsinnig vor Angst und konnte lange nicht beruhigt werden. Er nahm sich dann Jahre später das Leben, aus Gründen, die nichts mit seinem damaligen Erlebnis zu tun hatten.
Stephane Roussel, eine französische Journalistin, schreibt in "Die Hügel von Berlin" von einem SS-Offizier, dem sie im Zug im nationalsozialistischen Deutschland begegnete. Sie stehen - so schildert es mir meine Erinnerung - am Gangfenster und rauchen eine Zigarette. Sie fragt ihn ein bisschen aus, nach seinem Werdegang, nach seinen Gründen für den Eintritt in die SS: "Diese entsetzliche Leere in den Jahren der Republik...ich war ziellos...dann trat ich in die SS ein. Seitdem verfolgt mich die Leere nicht mehr."
Bei mir ist es nicht der Spiegel, sondern die New York Times. Keine schlechte Zeitung, bestimmt nicht; doch wenn ich nach Stunden obsessiven Lesens aus dem Sprachnebel auftauche, habe ich immer das Gefühl, Zeit verschwendet zu haben. Die Uhr tickt.
Vielleicht ist es am besten, die Leere zu ertragen, bis die Fülle zurückkehrt. Einfach still sitzen und warten. Am Neckar, in dessen Nähe ich aufgewachsen bin, kann man Schleusen bei der Arbeit zusehen: Das Schiff fährt in die leere Kammer, das Tor schliesst sich. Das Wasser schiesst in die Kammer ein. Sie füllt sich. Das Tor öffnet sich. Die Fahrt geht weiter.
Die Idee habe ich von Alexandra David-Neél, der Tibetforscherin: An einem Steilhang nimmst du die Hand von der Bremse und lässt das Fahrrad einfach rollen. Du widerstehst der Versuchung, zu bremsen. Auf zwei Dinge musst du achten: Die Strecke muss frei sein, damit weder Menschen noch Tiere zu Schaden kommen können. Das versteht sich von selbst. Dann muss deine Aufmerksamkeit fest im Körper verankert sein, etwas unterhalb des Bauchnabels. Wenn du sie hinauf in den Kopf lässt, passiert dir schnell das, was mir vor einigen Jahren passiert ist: Überschlag, dreifacher Beckenbruch.
Gelingt es dir aber, nicht zu denken, sondern mit der Aufmerksamkeit unten, in der Körpermitte zu bleiben, machst du eine erstaunliche Entdeckung: Du fährst viel sicherer, obwohl du viel schneller als sonst fährst.
Doch warum Alexandra David-Neél, die mit Fahrrädern nichts zu tun hatte? In einem ihrer Bücher erzählt sie von den Botenläufern des alten Tibet. Sie waren nachts zwischen den Klöstern unterwegs. Um in der Dunkelheit nicht zu stürzen, legten sie den Kopf in den Nacken, suchten sich einen Stern und ließen ihn erst wieder aus den Augen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie liefen blind, oder auf höhere Weise sehend, wie man es nimmt. Alexandra David-Neél behauptet, selber solchen Läufern begegnet zu sein; sie habe sie auf ihren Wanderungen durch Tibet nachts als schwarze Schatten vorbeirennen sehen.
Ich glaube nicht an Hokuspokus. Weiß der Himmel, wie die Botenläufer das damals angestellt haben.
Übrigens - um Lhasa zu besuchen, das damals eine verbotene Stadt war, gab sich die fast Sechzigjährige als Bettlerin aus. Sie zog sich Lumpen an, schmierte sich Ruß ins Gesicht und war monatelang in der Kälte des Hochlandes unterwegs. Sie schlief im Schmutz der Küchen und Ställe. Das ist eine weitere Art des Loslassens, die mich beeindruckt. Wenig steht einem erfüllten Leben so im Weg wie die Angst vor dem sozialen Statusverlust. Um vor den anderen nicht erniedrigt dazustehen, erniedrigt man das Beste in sich.
David-Neél lief mit sechs Jahren das erste Mal von zuhause fort; kurz vor dem Tod, mit hundert, ließ sie sich den Reisepass verlängern.
Vor vielen Jahren war ich mit einer älteren Dame befreundet, die mich immer mal wieder zum Essen in ihre Wohnung lud. Das Essen war fürchterlich, die Wohnung noch dazu mit Kakerlaken verseucht, die über die Wände, den Fernseher, sogar den Esstisch liefen. Aber ich hatte damals wenig Geld und war nicht wählerisch.
Diese Dame, die von den Zuwendungen ihres greisen Vaters lebte, war eine unersättliche Leserin. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht zwei oder drei Bücher verschlang. Wohin aber mit all dem angestauten Wissen? Verwandtschaft hatte sie keine, wenn man von dem Vater absah, der allerdings vier Autostunden entfernt lebte; Freunde ebensowenig; und mit den Nachbarn lebte sie im Dauerstreit. Also musste ich als ihr Gesprächspartner herhalten, wenn ich ein- oder zweimal die Woche bei ihr abends am Tisch saß.
Gesprächspartner ist eigentlich das falsche Wort. Sie duldete es nicht, dass man ihr widersprach, ja, sie duldete es nicht einmal, dass man überhaupt etwas sagte. Mir war es recht. Ich hörte ihr zu und aß. Und wenn ich fertig gegessen hatte - meist servierte sie Spaghetti, auf die sie einen Becher Hüttenkäse kippte - blieb ich anstandshalber noch zehn, fünfzehn Minuten sitzen, um dann schließlich ihren Redefluss zu unterbrechen und mich zu verabschieden.
An einem Abend jedoch ritt mich der Teufel; vielleicht hatte ich schlechte Laune, vielleicht hatte sich auch einfach meine finanzielle Lage soweit entspannt, dass ich mich nicht mehr auf die alte Dame angewiesen fühlte. Jedenfalls legte ich zum ersten Mal in diesen Monaten Widerspruch ein. Sie behauptete, der Mensch sei gut, im Herzen gut; es sei die Zivilisation, die ihn in die Irre, ins Böse führen würde. Mord und Totschlag habe es unter den Urmenschen, den Jägern und Sammlern nicht gegeben. Wie auch? Die einzelnen Sippen lebten so weit auseinander, dass sie sich kaum über den Weg liefen.
Ich hatte damals gerade ein Buch von Peter Matthiessen gelesen, einem amerikanischen Romanautor und Naturforscher, in dem er sein Jahr unter den Steinzeitmenschen Papuas beschreibt. Mord- und Totschlag, wohin das Auge reicht.
Eines führte zum anderen, die alte Dame erklärte unsere Freundschaft für beendet und warf mich aus der Wohnung. Ich war gerade unten aus der Haustüre draußen, als einen Meter vor mir ein weißer Gegenstand knallend auf dem Bürgersteig aufschlug: Es war die Nudelschüssel, die ich eben leergegessen hatte.
Inzwischen weiß man, dass sogar unter Menschenaffen gemordet wird. Jane Goodall beobachtete Schimpansenstämme, die einander über den Zeitraum von mehreren Jahren regelrecht ausrotteten. Die Männchen lauerten sich gegenseitig auf, zertrampelten die Neugeborenen, vergewaltigten die Weibchen. Und dies nicht, weil es Futtermangel gegeben hätte. Offenbar genügte es, den anderen Schimpansenstamm als irgendwie "fremd", "unverwandt" zu erkennen, um eine feindliche, ja, genozidale Haltung zu ihm zu entwickeln.
Im Jahr 1946 verlegte Anatole Broyard seinen Wohnsitz von Brooklyn nach Greenwich Village, um dort unter den Frauen und Männern der Bohème zu leben. Er war 26 Jahre alt.
Er zog schliesslich bei einer jungen Malerin ein, die später in den Biographien namhafter Künstlerinnen und Künstler auftauchte, als Muse, Freundin, Geliebte. Sie begannen ein Verhältnis miteinander; für ihn war es das erste Verhältnis überhaupt. Sexualität hatte er bislang nur als Soldat kennengelernt.
Sheri - so hiess seine Freundin - lud immer wieder Männer in die gemeinsame Wohnung ein, die ihn lautstark herausforderten: Er sei nicht gut genug für Sheri! Er müsse das endlich einsehen und ihn - den Herausforderer - an Anatoles Stelle lassen! Was diese Männer nicht wissen konnten, da Anatole Broyard es vor aller Welt verbarg: Er war kreolischer Abstammung, aber hellhäutig genug, um als Weisser durchzugehen. „To pass“, wie man damals sagte. Erst einige Jahre nach seinem Tod wurde dieser Umstand öffentlich bekannt und löste eine scharfe Debatte über Identität und Rassismus aus.
Offenbar erregten Sheri diese von ihr selber angezettelten Schaukämpfe. Hatte der Rivale schliesslich die Wohnung wieder verlassen, forderte sie Anatole gewöhnlich zum Sex auf.
Eines Nachts wurde Anatole Broyard aus dem Schlaf gerissen, da sich, wie er in seiner posthum erschienenen Autobiographie schreibt, „etwas in der Wohnung verändert hatte. Da war eine schmale Präsenz in der Luft, eine Art Zischlaut oder leise Schrillheit, eine schwache medizinische Note, etwa wie der Geruch, den chemische Reinigungen gelegentlich in Kleidern himterlassen. Ich bemerkte auch, dass das Licht in der Küche brannte. Ich dachte, Sheri müsse dort sein, und ich stand auf, um nach ihr zu sehen.
Sie sass auf einem Küchenstuhl. Sie war nackt. Ihre blossen Füße ruhten auf dem schmutzigen Linoleum. Die Beine waren geschlossen und die Arme hingen zu beiden Seiten des Stuhls herab, den sie zum Herd gerückt hatte. Sie lehnte auf der Seite, den Kopf auf der Oberseite des Herdes.
Alle Gasdüsen waren offen. Mein erster Gedanke war natürlich, sie zuzudrehen, aber ich zögerte. Sheri hatte mir beigebracht, nicht zu voreilig zu sein. Sie sofort zuzudrehen hiesse, den tieferen Sinn dieses Tableaus nicht zu erfassen. Der Stuhl, das auf dem Herd gefaltete Handtuch, das ihr als Kopfkissen diente, das Gas - all dies musste einen tieferen Sinn haben.
Ich starrte Sheri an, um zu erkennen, ob sie atmete, aber das war schwierig - alles hier war schwierig. Ihre Augen waren offen und ihr Gesichtsausdruck friedlich. Man hätte nie gedacht, dass tödliches Gas ein paar Zentimeter vor ihrem Mund vorbeiströmte. Sie sah aus wie jene Menschen auf mittelalterlichen Gemälden, die verklärt ihren Kopf zur Seite neigen.
Obwohl ich das Gas deutlich hören konnte, beschäftigte mich immer noch ‚der tiefere Sinn des Ganzen‘. Ich sammelte mich. Ich sog das Gas ein und hielt es wie Rauch in meiner Lunge. Ich nahm auch Sheris nackten Körper in mich auf, die kleinen Brüste und die schweren Beine, die Blässe. Ich spürte, wie die ganze Wohnung in meinem Kopf zu summen begann - das Geschirr in der Spüle, der Schmutz auf dem Boden, die Gemälde an den Wänden.
Auf der Schwelle stehend, mich an den kalten Türstock lehnend, spürte ich eine plötzliche Traurigkeit. Der Geruch war jetzt sehr stark.
Sheri hatte eine Gänsehaut, und als ich auf mein eigenes nacktes Fleisch schaute, sah ich, dass ich ebenfalls eine Gänsehaut hatte. ‚Schau’,rief ich, ‚wir haben beide eine Gänsehaut!‘
Aber das war sentimental. Das Gas machte mich sentimental - es war an der Zeit, es auszudrehen. Dann riss ich alle Fenster auf und trug Sheri ins Bett.“
Anatole Broyard, Kafka Was the Rage (übersetzt und gekürzt von mir)
Nach dem Selbstmord meiner Schwester begab ich mich in Psychotherapie, auch weil ich die Probleme meiner Herkunftsfamilienicht versehentlich an meine Söhne weitergeben wollte. Der Therapeut, den ich damals mehrfach im Jahr aufsuchte, hatte seine Praxis im südlichen Bayern, nicht weit von den Alpen. Auf einer der Zugfahrten dorthin fiel mir eine kroatische oder serbische Zeitung in die Hände. Sie zeigte eine Karikatur, die ich mir herausriss und lange im Geldbeutel aufbewahrte. Sie wurde zum geheimen Motto jener Jahre.
Dargestellt war links eine brennende Hundehütte und rechts ein Trupp von Feuerwehrleuten, den Löschschlauch in der Hand. Der rettende Wasserstrahl erreichte aber die Hütte nicht ganz. Warum? Weil der an der Hütte angekettete Hund die Zähne fletschte und die Feuerwehrleute wütend anbellte. Er liess sie nicht heran. Mit anderen Worten: Er verhinderte seine eigene Rettung.
Während der Therapie, die in Zehnergruppen stattfand, konnte ich immer wieder beobachten, wie wir uns gegen die angebotene Hilfe wehrten - ein in Therapien wohl häufiges Phänomen. Die Schmerzen, die uns hierhergebracht hatten, mochten unangenehm sein. Sie hatten allerdings den Vorzug des Vertrauten. Wenn es sie nicht mehr gab - was gab es dann? Diejenigen unter uns, denen es so dreckig ging, dass bei ihnen sozusagen nicht nur die Hütte, sondern schon der Pelz brannte - die hatten es am Ende einfacher. Sie nahmen das Angebot des Therapeuten an und sprangen entschlossen ins Unbekannte, denn schlimmer als das Bekannte würde es nicht sein können.
Vorhin war wieder alles da - unvermittelt, vollkommen überraschend. Innerlich war ich ganz woanders gewesen, beim Schreiben meines jetzigen Buches. Doch jetzt war ich wieder auf dem Dach oben, das israelische Mädchen neben mir, drumerhum die nächtliche Stadt: Hochsommer in New York, Hundstage.
Wir hatten aus meiner Wohnung, die im Stockwerk drunter lag, eine Matratze hochgeschleppt, damit wir nicht auf der dreckigen Dachpappe liegen mussten.
Es ist ja so: Deine Einsamkeit spürst du mitunter dann am stärksten, wenn du sie eigentlich gar nicht spüren solltest. Auf einer Party, zum Beispiel. Oder eben, wenn du aus nächster Nähe in das Gesicht eines anderen Menschen schaust, eure Körper nackt und schwitzend aneinander.
Sicher hatte das auch mit dem vielen Kiffen zu tun und mit der allnächtlichen Schlaflosigkeit. Auch mit dem furchtbaren Versagen auf der Schauspielschule, jenen Wochenend-Kursen, die mir meine Unbegabtheit, meine vollkommene Ungeeignetheit für den Beruf vor Augen führten.
Aber darunter war noch etwas anderes, eine Art Raunen, das im Lauf der Jahre stetig eindringlicher geworden war, eine Konsequenz nämlich meiner ganz spezifischen Persönlichkeit, ein Urteil, das schon sehr früh über mich gesprochen worden war und dessen Richtigkeit ich nicht mehr leugnen konnte: Etwas an mir war grundlegend falsch, passte nicht, stand quer zur Welt.
Ein paar Nächte später rannte ich - getrieben von einer namenlosen Angst - durch die Strassen. An den roten Ampeln sprang ich auf der Stelle hoch und nieder. Ich war mir sicher: Wenn ich stehen bleibe, ist es um mich geschehen.
Drogeninduzierte Dissoziation, würde ich heute sagen.
Mein Glück war, dass mich eine Freundin sah und zu sich nahm. Eine Französin, etwas älter als ich, die sich viel auf ihre Lebensklugheit zugute hielt. Sie erklärte mir in jener Nacht genau, wie man es als Frau anstellen müsse, die amerikanischen Einwanderungsbehörden zu überlisten:
"Heiraten langt nicht mehr. Die wissen auch, dass die East Village voller Schwuler ist, die mit dir für 1000 Dollar zum Standesamt gehen. Auf die Details kommt es an, sie fragen dich nach den Details. Daran scheitern dann viele. Zum Beispiel: Wie sieht die Zahnbürste deines Ehemannes aus. Im Zimmer nebenan hockt dein "Ehemann", und den fragen sie das Gleiche. Und schon haben sie dich."
Mit derlei ablenkendem Gerede brachte sie mich durch die Nacht. Jenem Sommer hatte ich es übrigens zu verdanken, dass ich später nicht zur Bundeswehr musste. Ich musste mir nicht - wie andere - erst zusammenlesen, wie sich ein paranoider Wahn anfühlt. Ich konnte aus eigener Erfahrung schöpfen.
Und das israelische Mädchen? Sie war, bevor sie nach New York kam, aktive Soldatin gewesen. Als wir zusammen "Apocalpyse Now" sahen, stand sie bei einer Kampf-Szene plötzlich auf und rannte aus dem Kino: zu nah an dem, was sie ein Jahr zuvor tatsächlich erlebt hatte. Wir standen auf der Strasse, rauchten eine Zigarette. Ein paar Male trafen wir uns noch, dann lernte ich meine erste Frau kennen, und wir sahen uns nicht wieder.
Und noch etwas: Meine Erfahrung ist, dass solche Zustände unmöglich anderen Menschen zu vermitteln sind, die dergleichen selber noch nicht erlebt haben. Die Angst vor dem Verrücktwerden ist zugleich das Verrücktwerden - wie soll man das mit Worten begreiflich machen?